Bifo II: Neue Aphorismen aus der Isolation

Dieser Beitrag ist Teil der Coronavirus und die Philosophie Serie. Einen Überblick über die weiteren Teile dieser Blogbeitragsserie gibt es hier.

Franco ‚Bifo‘ Berardi hat am 6. April 2020 den zweiten Teil seiner aphoristischen Tagebucheinträge abermals auf der Verso-Verlagsseite veröffentlicht. Bei der Besprechung der ersten Einträge habe ich bereits längere Bemerkungen und Überlegungen formuliert, bezüglich der spannenden Form, in der Bifo auf das sich entfaltende Ereignis Coronavirus und den weltweiten Reaktionen und Maßnahmen darauf reagiert. 

Auch wenn Bifo mittlerweile einen Text üblicher Form im Rahmen der transversal Ausgabe Around the Crown publiziert hat, halte ich dennoch seine aphoristische, vorsichtige und flexible Form der tagbuchähnlichen Einträge für eine der geeignetsten Formen der Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation. Denn in diesen Einträgen mischen sich philosophische Bemerkungen und Thesen, mit Fundstücken aus gerade gelesenen Texten, persönlichen Anekdoten und aktuellen Entwicklungen und spiegeln damit die eigenartige und eben nicht klar trennbare Verwicklung persönlicher Betroffenheit, aktueller Ereignisse und dem Ringen nach einem Denken über das Ereignis, wieder, eine Verwicklung die viele von uns gerade erfahren.

Waren die ersten Einträge noch dominiert von dem Versuch das Ereignis und vor allem das Virus selbst zu verstehen, die massiven Maßnahmen gegen die Ausbreitung einzuordnen und sich mit dieser, vor allem in Italien, plötzlich dramatisch intensivierenden Situation auseinanderzusetzen, ist der zweite Teil der Einträge nun vor allem der Frage wie lange diese Situation unser Leben bestimmen wird gewidmet und was für ein danach es geben kann, besonders wenn man noch nicht einmal weiß wie lange es bis zu diesem danach dauern wird. Der zweite Teil ist auch wesentlich mehr von der persönlichen Situation Bifos bestimmt. Wiederkehrende Motive sind dabei seine Asthmaerkrankung, die Korrespondenzen mit Freund*innen aus aller Welt und verschiedenste Ausschnitte und Zitate aus gerade gelesenen Texten. Doch vor allem geht es Bifo auch in diesen Einträgen, die zwischen dem 16. und 24. März verfasst wurden, um die Frage wie der Einschnitt dieses Ereignisses eine neue progressivere Imagination einer Gesellschaft, die nicht mehr nach Profitstreben und ökonomischen Wachstum, sondern stattdessen nach „Nützlichkeit“ und dem guten Leben aller ausgerichtet ist, wie also diese Imagination politisch erreicht werden kann.

Eine Welt verschwunden hinter dem Virus

Bei all der Faszination, Diskussion, Brisanz und Dringlichkeit die die momentane Pandemie mit sich bringt darf, wie Bifo richtigerweise betont, nicht vergessen werden, dass es eine Welt hinter dem Virus gibt. Denn die Konflikte, die Probleme die Tragödien und die Ausbeutung haben nicht einfach aufgehört wegen der Pandemie, sie haben sich im Gegenteil an dem einen oder anderen Ort noch massiv intensiviert, sie scheinen aber dabei weniger beobachtet und weniger beachtet zu werden. Dieses Schweigen über alle restlichen Probleme betrifft vor allem auch die Nachrichten und Presse, wie Bifo ausführt. Er weist dabei mit Recht darauf hin, dass wir dieses Verschwinden des Blicks auf die Probleme der Welt hinter dem einen alles verschlingenden Themas nicht zulassen dürfen:

19. März: The rest of the world has vanished from any information, nothing but coronavirus. Today there was no news on the radio but the epidemic. A friend from Barcelona tells me that he spoke to an editor of the Spanish national television: it seems that when they send news on something that is not the contagion, people call them pissed off, or they insinuate that they are hiding something…

Es ist daher auch Teil einer kritischen Reflexion und einer politischen Arbeit diese Konflikte immer wieder in Erinnerung zu rufen. Denen, die sich nur noch als die „Manager der Pandemie“ inszenieren wollen und dabei ihre Ignoranz gegenüber Refugees, sozialen Problemen oder kriegerischen Auseinandersetzungen beziehungsweise überhaupt ihre Beteiligung an eben diesen Problemen und Konflikten verstecken wollen, diejenigen muss man auch weiterhin auf ihre Verantwortlichkeiten jenseits des Virus ansprechen und ihre Politik kritisieren und bekämpfen. Bifo:

19. März: I understand the need to keep the public’s attention focused on prevention measures, and I understand the need to repeat one hundred times per day “you must stay at home.” But this media strategy has an anxiety-inducing effect absolutely not needed; moreover, it has become almost impossible to know what is going on in Northern Syria. Eight schools were bombed in a single day in Idlib a few days ago. And what’s going on at the Greek-Turkish border? No longer any boat full of Africans in the Mediterranean that risk sinking or that are stopped and sent back to the Libyan concentration camps? Of course there are, actually to be more precise, just yesterday I happened to find news on a boat with one hundred and forty people on board, sent back by the Maltese coast guard.

Ein Durchatmen für die Natur und die Menschen?

Eines dieser Probleme ist dabei auch der Klimawandel. Immer wieder fragt Bifo in seinen Überlegungen nach der Frage der Normalität, also der Frage ob es ein Zurück zur vermeintlichen ‚Normalität‘ geben wird können, und der Überzeugung, dass genau dies der falsche Weg wäre. Die Frage der Normalität vor/in/nach der Pandemie wurde an anderer Stelle in dieser Serie mit verschiedenen Texten ebenfalls bereits betrachtet. Doch was ist diese Normalität, zu der sich so viele eine Rückkehr wünschen. Es ist eine brutale Normalität des (Aus)Sterbens, wie Bifo argumentiert. Kriege, kapitalistische Ausbeutung, rassistische und sexistische Unterdrückung und die Zerstörung der Umwelt, alles Teile der Normalität, die zumeist in verschiedenen Kombinationen den Status Quo beherrschen. Die Normalität davor war also schon eine beginnende Apokalypse, so Bifo:

24. März: Even before the pandemic exploded, the word “extinction” had begun to appear on the century horizon. Even before the pandemic, the year 2019 had shown an impressive crescendo of environmental and social collapses that culminated in November with New Delhi’s unbreathable nightmare and Australia’s terrifying fires. The millions of kids who marched through the streets in many cities on March 15th, 2019 demanding to stop the death machine, have now reached the core and the climate change dynamics have been for the first time interrupted.

Die wöchentlichen Klimademonstrationen mussten wie viele andere politische Aktivitäten im öffentlichen Raum während der Pandemie ausgesetzt werden, doch das Thema des Klimawandels wird dennoch, wenn auch weniger, diskutiert. Dabei wird gerade in Social Media immer wieder auf die mögliche Verbesserung von Gewässer- und Luftqualität verwiesen, die vor allem mit dem dramatischen und von keinem noch so radikalen Klimapakt in dieser Intensität geforderten Rückgang der globalen Mobilität zusammenhängt. Doch dieser vorübergehende Rückgang ist kein nachhaltiger, wenn das System selbst nicht verändert wird, sondern nur pausiert. Bifo:

24. März: After a month of lock down, the air in the Po area has become breathable again. At what price? A very high price, now paid for in lost lives and rampant fear, that tomorrow will be paid for with an unprecedented economic depression. But this is the effect of capitalist normality. Returning to capitalist normality would be such a colossal idiocy, we would have to pay for with an acceleration towards extinction. If the Padana air became breathable thanks to the scourge, it would be a colossal idiocy to reactivate the machine that makes the Po Valley unbreathable, carcinogenic and an easy prey for the next viral epidemic

Die Umweltbewegungen wissen um die fehlende Nachhaltigkeit dieses momentanen Rückgangs und die Gefahr der Rückkehr der Normalität. Daher ist es wichtig weiter zu kämpfen sich weiter zu organisieren und nicht den problematischen weil zu einfachen Narrativen zu verfallen, die diese kurze Pause als eine Rache oder eine Gegenwehr einer vermeintlich subjektivierten „Natur“ verstehen. Nicht-menschliche Akteure sind Teil eines ökologischen Kampfes, aber nicht alles was passiert ist der Plan einer personalisierten Natur, siehe auch den Diskurs um den Gaia-Begriff. Eine Kritik, die man hier auch an so manchen problematischen oder auch schlicht zu einfachen Formulierungen Bifos üben muss:

16. März: The earth is rebelling against the world. Pollution evidently decreases. The satellites are sending photos of China and Padania, completely different from the ones they used to send two months ago. I do feel it in my lungs, which haven’t been breathing as well for the past ten years, since I was diagnosed with severe asthma caused by the very air of the city I live in.

Gegen einen einfachen Reset der Maschine

Die jetzige Krise, so gibt sich Bifo wie schon im ersten Teil auch hier wieder überzeugt, ist eine komplett andere als die Finanzkrise von 2008. Dementsprechend könnte auch die Reaktion darauf eine andere sein, nämlich eben nicht ein Zurück sondern ein Umdenken, denn wie so oft betont er auch hier nochmals, dass die Normalität nicht zurückkehren darf:

24. März: The crisis to come has nothing to do with the one in 2008, when the problem was generated by financial mathematics imbalances. The depression to come depends on the intolerability of the human body and mind toward capitalism. The ongoing crisis is not a real crisis. It is a RESET. It is a matter of turning off the machine and turning it on again, after a while. Yet, when we turn it back on, we can decide to make it work as before, running the risk of finding ourselves living the same nightmare all over again—or we can decide to reprogram it, according to science, consciously and sensitively. If we simply pretend to return to “normal” we might have to face violence, totalitarianism, massacres, and the extinction of the human race before the end of the century. Normality must not return.

Der dramatische Einschnitt in das persönliche aber auch das wirtschaftliche Leben durch die Pandemie und die Maßnahmen dagegen, verändert uns. Automatismen werden vielleicht abgelegt und gebrochen. Das Gewohnte ist verloren gegangen oder zumindest ausgesetzt worden, vielleicht ist daher Zeit nach einem Neuen zu fragen. Immer wieder also die Frage der Imagination, der Vorstellungskraft eines nachher, eines Neuanfangs. Wer hier zuerst eine Vision der Zukunft entwickelen kann, eine Alternative gegen ein einfach weiter wie bisher, so Bifo, der könnte entschiedener starten und so vielleicht mehr beeinflussen, wie sich ein nachher entfalten könnte.

20. März: When the quarantine ends—if it does and it is not sure that it will—we will be devoid of rules, but also devoid of automatism. Humans will then regain a role that is certainly not dominant in respect to chance—as the virus teaches us human will has never been decisive—yet significant. We will get the chance to rewrite the rules and break any automatism. But it is good to know, this won’t happen peacefully. We cannot foresee the shape the conflict will take, yet we must begin to imagine it. Whoever imagines first wins—one of the universal laws of history. At least, I think so.

Die Pandemie, so hat Bifo die Hoffnung, könnte auch und vor allem die Frage nach der Wertigkeit neu stellen. Im Individuellen wie auch gesellschaftlich haben sich in diesen Wochen des social distancing viele Perspektiven verschoben. Ein so radikaler persönlicher wie auch gesellschaftlicher Einschnitt geht nicht einfach spurlos vorüber. Was ist ein gutes Leben wert und ist dies rein ökonomisch zu beantworten und zu bewerten. Diese Umwertung muss als Chance ergriffen werden, die neoliberale Hegemonie zu brechen:

17. März: For the machine to get working again, it will be a matter of inventing everything from scratch. We must be ready to prevent it from functioning as it has done for the past thirty years: market religion, privatist liberalism ought to be considered as ideological crimes. Economists who have been promising for the past thirty years that the solution for any social disease was cutting public spending and privatization will be socially isolated if they try to open their mouths again, they deserve to be treated for what they are: dangerous idiots.

Ein neues Wertesystem?

Diese Verschiebung der Wertigkeiten muss also weg vom finanziellen Wert als Grundlage aller Entscheidungen. Es braucht andere Kategorien, Kategorien, die manchen, so Bifo, an das Konzept des Kommunismus erinnern werden und wenn es kein neues Wort dafür gibt, dann muss eben das alte vorerst genügen, über ähnliches hat auch Badiou schon geschrieben. Zentral ist nicht wie diese neue Wertigkeit genannt wird, sondern dass es nicht mehr um finanziellen Gewinn sondern allgemeines Wohlbefinden, Verteilung und Absicherung aller geht.

23. März: I don’t know if we will get out of the storm alive, but if we do, the word privatization will have to be cataloged in the same register as the word endlosung. The devastation produced by this crisis should not be calculated in terms of the financial economy. We will have to assess damages and needs based on utility. We will not have to face the problem of having successful ends in the financial system, but we will have to make sure to guarantee basic needs for everyone. Is there anyone who does not like this logic because it reminds them of communism? Well if no one has come up with better and more modern words, we are still entitled to use the same, a bit old but still very appealing.

Bifos enger Freund und Weggefährte Félix Guattari hat besonders in seinen späten Schriften viel über die Frage des Kampfes für neue Wertsysteme, für neue Bewertungen und damit ein anderes Denken und eine andere zu Grunde liegende Logik geschrieben, etwas worüber vielleicht ein eigener Beitrag erscheinen könnte. Als zentrale Kategorie dieser neuen Wertigkeit schlägt Bifo nun die “Nützlichkeit” als neues Paradigma des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebens vor. Ob diese Kategorie einer kritischen Befragung standhält muss an anderer Stelle diskutiert werden:

24. März: We won’t have to ask ourselves what is good for the stock market, or for the economy of debt and profit. Finance has gone to hell, we don’t want to hear about it anymore. We will have to ask ourselves what is really useful. The word “useful” must be the alpha and omega of production, technology and activity.

Kampf aber wie

Es braucht also eine Veränderung, so Bifo, eine Umwertung, aber wer entscheidet über diese Veränderung oder die Verhinderung eben jener? Wer entscheidet, ist für Bifo eine der wichtigsten Fragen, es ist sogar die „Frage der Revolution“ wie Bifo schreibt. Wie zuvor betont, darf es wenn wir Veränderung wollen kein Zurück zum vorherigen vermeintlichen Normalzustand geben, und damit können auch nicht die weiter Entscheidungsmacht haben, die sie davor schon hatten. Damit verstärkt Bifo seinen Aufruf des ersten Teils der Tagebuch-Aphorismen, nämlich der Frage der Vorstellungskraft, der Frage wie etwas Neues oder zumindest etwas anderes vorstellbar ist, wie Veränderung nach diesem Einschnitt gedacht und realisiert werden kann. Wer diese Vorstellung kreiert und durchsetzt, also wer entscheidet, was der neue Normalzustand werden wird, diese Frage gilt es eben genau jetzt in aller Deutlichkeit zu stellen und zu diskutieren:

24. März: We will also have to think about the most delicate question of all: who decides? Pay attention, when the issue “who decides?” arises it brings along the question “what is the source of legitimacy?” This is the question to begin the revolution with. Whether we want it or not, this is the question we ought to ask ourselves.

Konklusion?

Wie schon in den ersten Beiträgen dieser Art, ist die Entwicklung und Mischung der Thesen und Bemerkungen, der Zitate und Gedanken das interessante an diesem Text. Nicht jede These wird argumentiert, einiges mag sich widersprechen, mag auch in neueren Einträgen bereits wieder anders eingeschätzt werden. Den Prozess des Denkens und Irrens, des Probierens und Scheiterns sich diesem Ereignis zu nähern, diesen Prozess transparent zu machen durch die Veröffentlichung dieser Einträge ist das spannende an diesem Unterfangen. Dass an manchen Tagen eine apokalyptische und pessimistische Grundhaltung die Einträge durchzieht, an anderen eine zurückgezogene vorsichtige und an wieder anderen Tagen eine entschlossene und kämpferische, diese Wechsel überraschen nicht sondern werden wohl von vielen gerade erfahren. Die Fähigkeit an manchen Tagen zu schreiben und an anderen nicht einmal lesen zu können ebenfalls. Bifo riskiert sich in der Veröffentlichung solcher Gedanken durchaus, denn vieles würde in eine redigierte und überarbeitete Version eines Textes über Covid19 so nicht Eingang finden, aber es ist gerade das riskante und unausgegorene dieser Einträge, dass sie spannend und lesenswert macht und ein Nachdenken und eine Diskussion anregen soll.

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