Nancy vs Agamben: Die ‚virale Ausnahme‘

Dies ist der vierte Teil der Coronavirus und die Philosophie Serie. Einen Überblick über die weiteren Teile dieser Blogbeitragsserie gibt es hier.

Bild aus 1918, während der Zeit der spanischen Grippe — Verwedet im Originalartikel von Nancy

Den mit jedem Tag problematischer und befremdlicher wirkenden Kommentar, den Giorgio Agamben am 26.Februar für eine italienische Zeitung verfasste und in dem er Covid-19 runterspielt und gleichzeitig versucht seine theoretisch so wichtigen Begriffe, besonders den Ausnahmezustand, in einer unklaren und fragwürdigen Art als Kritik an verschiedenen Maßnahmen der italienischen Regierung zu verwenden, habe ich im vorigen Teil dieser Blogpostserie dargestellt. Dabei hat Agambens Kommentar durchaus Reaktionen provoziert. Hier soll nun in aller Kürze die Reaktion des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy zusammengefasst und kommentiert werden. Nancy, den eine enge Freundschaft mit Agamben verbindet, hatte gleich am nächsten Tag auf Agambens Bemerkungen reagiert und ihn dabei stark kritisiert. Dabei ist die Kritik nicht einfach nur eine andere Einschätzung wie auf den Coronavirus reagieren zu sei, sondern offenbart, wenn auch nicht explizit ausgesprochen, durchaus auch philosophische Differenzen der beiden Autoren.

Jean-Luc Nancy schrieb also am 27. Februar 2020 eine Antwort an Agamben, publiziert in der italienischen Zeitung Antinomi (hier kann der Kommentar auf Italienisch und im französischen Original nachgelesen werden / die englische Version des Kommentars findet sich ebenfalls im European Journal for Psychoanalysis ). Der Text trägt den durchaus interessanten Titel Viral Exception, ein Titel der bereits auf einen zentralen Kritikpunkt Nancys verweist, nämlich auf die Frage inwiefern Agambens etwas banales Einwerfen seines eigenen hochkomplexen und wichtigen Begriffes des Ausnahmezustands in der Beurteilung der momentanen Situation hilft. Damit soll nicht gesagt werden, dass das Konzept des Ausnahmezustandes, genauso wenig wie die politische Praxis des Ausnahmezustandes nicht wichtige Analysewerkzeuge und wohl auch Handlungswerkzeuge darstellen in der aktuellen Situation. Wie in einem früheren Teil der Serie angeschnitten, ist es jedoch relevant, dass diese beiden „Ausnahmezustände“ (das Konzept und die politische Praxis) nicht in eins gesetzt werden können oder sollten, da Agambens Konzept eine wesentlich weitergehende Grundstruktur moderner Gesellschaften beschreibt, als ‚bloß‘ die politische Praxis des Ausnahmezustandes. Nancy jedenfalls weist Agamben darauf hin, dass in der momentanen Situation die plumpe Kritik Agambens nicht den Ernst der Lage erfassen kann. Inwiefern die „virale Ausnahme“ als Konzept hilfreich sein wird, die Zäsur des Coronaviruses zu beschreiben wird sich noch zeigen müssen.

Virale Ausnahme statt Ausnahmezustand?

Nancy beginnt seine Antwort mit der einfachsten aber auch dringendsten Kritik an Agambens Text, nämlich seiner Gleichsetzung von Covid-19 mit einer üblichen Grippe, eine Behauptung die – wie schon im vorigen Beitrag erwähnt – auch schon Ende Februar vielfach widerlegt war. Nancy weist dabei darauf hin, dass die Quellen die Agamben selbst zitiert, seine eigenen Behauptung nicht stützen. In Nancys Worten:

Giorgio Agamben, an old friend, argues that the coronavirus is hardly different from a normal flu. […] The difference (according to sources of the same type as those Agamben uses) is about 1 to 30: it does not seem an insignificant difference to me.

Nun wendet sich Nancy der Frage des Ausnahmezustandes zu, und kritisiert Agamben dafür, den Ausnahmezustand den dieser in der Reaktion der italienischen Regierung verortet zu losgelöst von der globalen Situation zu analysieren. Nancy weist darauf hin, dass in der Zeit der „viralen Ausnahme“ der Ausnahmezustand zur Regel geworden ist, und zwar vor allem die politische Praxis des Ausnahmezustandes. Dabei verschiebt Nancy die Perspektive weg von der italienischen Situation, denn es ist die Realität einer eng vernetzten und seit Jahrzehnten immer rasanter globalisierten Welt, die diese „virale Ausnahme“ überhaupt erst ermöglicht und in dieser Intensität und Beschleunigung ausgeweitet hat. Nancy:

Giorgio states that governments take advantage of all sorts of pretexts to continuously establish states of exception. But he fails to note that the exception is indeed becoming the rule in a world where technical interconnections of all kinds (movement, transfers of every type, impregnation or spread of substances, and so on) are reaching a hitherto unknown intensity[.]

Der globalisierte Ausnahmezustand

Es geht also laut Nancy darum, mit der nötigen Kritik nicht das falsche Ziel zu adressieren. Es geht schließlich nicht um eine rein italienische Frage. Die Globalisierung und die zunehmende mobile, wirtschaftliche wie auch technologische Vernetzung sind natürlich Teil der Problematik, die der Virus als globale Pandemie besonders deutlich und ganz direkt offensichtlich macht. Doch braucht es einen differenzierten, kritischen und allen voran politischen Begriff von Globalisierung, nicht bloß einen deskriptiven um überhaupt sinnvoll und auch der Situation entsprechend zu analysieren. Ganz fatal ist es also, in der Kritik an Agamben, der seine Kritik lediglich an die italienische Regierung richtet, in eine entgegengesetzte Falle zu tappen und die Rolle von Regierungen völlig beiseite zu lassen. Regierungen sind nämlich nicht bloß „grim executioners“, wie Nancy schreibt, sondern aktive Akteure und dies nicht bloß in der Reaktion und im Umgang mit dem Virus, sondern noch viel mehr in den zahllosen Bereichen, die diese Pandemie ermöglicht und verschlimmert haben. Die neoliberalen Einsparungen im Sozialsystem und die globalisierte Verlagerung aller Produktion nach Übersee, sind nicht einfach natürliche Entwicklungen, sondern politisch gewollte und intensivierte. Dazu zählen auch die Entscheidungen wie Europa mit Flüchtenden umgeht und ob diese an der Grenze sterben oder in den Flüchtlingslagern selbst dem Virus und vielen anderen Problemen ausgesetzt sind. Hier spielt die italienische Regierung (aber natürlich nicht nur diese) eine zentrale Rolle. Nancys Verschiebung der Perspektive zielt also über das Ziel, lässt überhaupt keine Analyse außer der ominösen „weltweiten Vernetzung“ mehr zu und verliert damit nicht nur ihre politische sondern auch philosophische Kraft. Nancy im Wortlaut:

We must be careful not to hit the wrong target: an entire civilization is in question, there is no doubt about it. There is a sort of viral exception – biological, computer-scientific, cultural – which is pandemic. Governments are nothing more than grim executioners, and taking it out on them seems more like a diversionary manoeuvre than a political reflection.

Dass die “virale Ausnahme” jedoch nicht ‘nur’ eine medizinische ist, wie Nancy schreibt, dies ist ein wichtiger Punkt. Die „virale Ausnahme“ als globaler Ausnahmezustand „infiziert“ natürlich auch sämtliche anderen Bereiche vom gesellschaftlichen Leben über ökonomische Faktoren bis hin zu kulturellen Veränderungen und natürlich auch individuellen Veränderungen, physisch wie psychisch. Diese Veränderungen sind jedoch allesamt politisch etwas das Nancy tendenziell in seinem gesamten Werk zu oft vernachlässigt.

Der Eindringling?

Am Ende seiner Replik, wird Nancy noch einmal bissiger und schließt mit einer persönlichen Anekdote und sarkastisch-ironischen Anmerkungen. Nancy verweist auf einen Rat, den Agamben ihm vor 30 Jahren gab, als Nancy eine Herztransplantation benötigte: Agamben riet Nancy nämlich doch lieber nicht dem Rat der Ärzte zu folgen und sich nicht operieren zu lassen. Nancy hat sich sehr ausführlich und wie ich meine auch philosophisch äußerst fruchtbar mit dieser seiner Herztransplantation und den persönlichen physischen wie psychischen Folgen daraus beschäftigt. In seinem im Deutschen als eigenes kleines Büchlein veröffentlichten Essay Der Eindringling beschreibt Nancy die Erfahrung der Herztransplantation so persönlich wie reflektiert. Für mich ist dieser Text sein bei weitem stärkster und ich werde vielleicht in einem späteren Teil der Blogpostserie ein paar Bemerkungen, die auch im Umgang mit dem Virus als wahrgenommenen „Eindringling“ in das Immunsystem und den Körper (den persönlichen wie politisch-kollektiven) von Interesse sein können, verfassen. Das Nancy jedenfalls Agambens Rat nicht befolgte und sich operieren lies, ist wohl einer der Gründe warum er sich motiviert fühlte so schnell auf Agambens Kommentar zu antworten, und so will ich den Schluss dieser Antwort in seiner Gänze zitieren:

I mentioned that Giorgio is an old friend. And I apologize for bringing up a personal recollection, but I am not abandoning a register of general reflection by doing so. Almost thirty years ago doctors decided I needed a heart transplant. Giorgio was one of the very few who advised me not to listen to them. If I had followed his advice, I would have probably died soon enough. It is possible to make a mistake. Giorgio is nevertheless a spirit of such finesse and kindness that one may define him –without the slightest irony – as exceptional.

Inwiefern Nancy aber problematische und vor allem apolitische Einschätzungen in seiner Kritik an Agamben formulierte, und diese apolitische Haltung vielleicht auch überhaupt ein gewisses Grundproblem von Nancys Theorie eröffnet, darüber wird es in einem späteren Teil der Serie noch gehen, nämlich wenn wir uns der Kritik der Kritik widmen, die Roberto Esposito verfasste.

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