Claude Lefort und die Demokratie als Schaukampf

Dieser Post ist Teil der Serie Vom Sinn und Unsinn des Wahlspektakels im Zeitalter der Postdemokratie

Der Wahlkampf ist nervig er ist peinlich, Fremdschamerregend und er ist entwürdigend. PolitikerInnen müssen sich dauerfilmen lassen, wie sie jeden noch so schlecht besuchten Kirtag heimsuchen, Fahnen schwenken bei Länderspielen, Babys küssen, Bierzeltreden schwingen und dabei immer freundlich bleiben und gezwungen sind „Volksnähe“ zu simulieren. Doch über die banalen Niederungen des alltäglichen Wahlkämpfens hinaus verweist dieses Mega-Polit-Spektakel vor allem darauf, dass der Wahlkampf, dass die Wahl und die repräsentative Demokratie immer schon, vom Konzept her, eine Showveranstaltung sind. 

Claude Lefort, einer der einflussreichsten Demokratietheoretiker des 20. Jahrhunderts, weist in seinen Schriften daraufhin, dass das Parlament als Theaterbühne der politischen Konfrontation nicht per se negativ zu verstehen ist. Denn, so Lefort, mit der physischen wie auch symbolischen Enthauptung des Königs1, der die Einheit des Volkes repräsentierte, muss dieser Ort der Macht, den der König früher verkörperte, immer leer bleiben.2 Der Ort der Macht darf nie wieder verkörpert werden, dies würde nämlich unmittelbar in eine Diktatur führen (Volkskörper der gesund erhalten muss, usw.) sondern darf nur temporär besetzt werden. Die Wahl stellt hierbei für Lefort so etwas wie eine institutionalisierte symbolische Enthauptung dar. Der Wettstreit der Parteien im Parlament und im Wahlkampf ist für Lefort also ein Stellvertreterkrieg, ein symbolischer Streit, der auf die „ursprüngliche Teilung“ der Gesellschaft, den Klassenkonflikt — also darauf dass es in einem bürgerlichen Staat immer ‚Anteillose‘ (Rancière) geben wird – verweist. Gleichzeitig wird diese ursprüngliche Teilung aber auch verleugnet, weil die Wahl die Einheit der Gesellschaft, also die Gleichwertigkeit jeder Stimme, symbolisiert. Das politische Theater ist für Lefort also eine symbolische Bühne, die den Klassenkonflikt verleugnet, jedoch symbolisch repräsentiert. Repräsentative Demokratie als ambivalente Bühne eben, wie sie Marcel Gauchet, Leforts Mitstreiter, beschreibt:

Die Einrichtung einer politischen Bühne, auf der sich jener Wettstreit abspielt, bringt jene allgemeine Teilung zum Vorschein, die sogar konstitutive Bedeutung für die Einheit der Gesellschaft hat. Oder anders ausgedrückt: die Rechtfertigung des rein politischen Konflikts schließt auch das Legitimitätsprinzip des gesellschaftlichen Konflikts in all seinen Spielarten mit ein. (Gauchet 1990a, 194).

Die Wahl ist somit der Ort und die Institution, wo der Konflikt ausgetragen werden kann, allerdings ist sich Lefort sehr wohl der Schwierigkeiten der Wahl in einer bürgerlichen Demokratie bewusst. Die Wähler können schließlich nur verschiedene Akteure „einer politischen Oligarchie“ (Lefort/Gauchet, 107) wählen, was eine „authentische“ und ernsthafte Repräsentation verunmöglicht. 

Zweifellos ist die rechnerische Gleichheit, derzufolge jedes Individuum einer einzigen Stimme entspricht, rein formal. Sie entbehrt jeder Entsprechung im Schoße der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der ein gewaltiges Missverhältnis zwischen den Rollen und Einflussmöglichkeiten besteht. Es stellt sich jedoch die Frage, ob es legitim ist, jene Geste als wertlos zu erachten, mit der die in ihre je einzelnen Welten gefangenen, ihren konkurrierenden Interessen verhafteten Individuen sich der Partikularität ihrer Rolle, ihres Status und ihres Milieus entreißen, um sich als abstrakte Einheiten einzig nach Maßgabe des Äquivalenzprinzips zu konstituieren und somit Zugang zu einer Form der Universalität zu erlangen. Bringt nicht dieser kollektive Akt dem Gemeinwesen die Bestätigung seiner Dimension als symbolische Totalität? — Eine Dimension, die sich ihrem Wesen nach ständig verflüchtigt, während der Prozess ihrer Wiederherstellung in der Organisation einer jeden Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist. (Lefort/Gauchet, 113). 

Die Wahl, die Stimmengleichheit, das Beschwören des „Kleinen Mannes“ als Souverän ist im Wesentlichen Show, doch für Lefort und Gauchet ist es eine notwendige Show. Der ursprüngliche Konflikt, der jede Gesellschaft konstituiert hat, kann und darf nicht gelöst werden, es kann keine Einheit der Gesellschaft geben – eine vollständige Verschleierung des Konflikts würde zu Totalitarismus führen -, der Konflikt sollte aber auch nicht einfach so ausgetragen werden, dies würde zu einem Bürgerkrieg führen. Daher ist die Demokratie die einzige freiheitsfördernde Regierungsform — zumindest für Lefort -, da in der Demokratie der grundlegende Konflikt auf eine symbolische Ebene getragen wird, sich selbst bewusst, dass der Konflikt allerdings real ist. Der Konflikt wird symbolisiert von den verschiedenen im Wettstreit befindlichen Parteien sowie der Wahl, der Konflikt wird institutionalisiert. Die Macht und die demokratischen Institutionen verschleiern jedoch selbst diese Zusammenhänge. Weshalb dieses fragwürdige Spiel der Simulation des Konflikts stets in Gefahr seiner eigenen Auflösung ist:

In der Demokratie ist die Macht ihrem Wesen nach anonym. Trotzdem hindert faktisch nichts die Regierenden daran, sich ihrer zu bemächtigen und sich, gestützt auf einen Zwangsapparat, in Tyrannen zu verwandeln. Die Wirksamkeit des institutionellen Systems ist symbolischer Natur; sie kann von den faktischen Ereignissen bedroht werden. Und ebenso wird sie davon bedroht, dass der Klassenkampf wieder aufflackert, seiner Vermittlung entweicht und wieder zu seiner eigenen Ausdrucksform gelangen könnte. Das Überleben eines demokratischen Herrschaftssystems wäre deshalb unverständlich, wenn es nicht in seinem Schoße beständig den symbolischen Rahmen reproduzieren würde, in dem der Kampf der Menschen sich zivilisiert, indem er sich in ihm einschreibt, bzw. wenn sich nicht jenes Netz von Differenzen wiederherstellen würde, das die Demokratie vor ihrem Zusammenbruch bewahrt. (Lefort/Gauchet, 113). 

Für Lefort und Gauchet ist die Simulation der „ursprünglichen Teilung“ im Rahmen der repräsentativen Demokratie also nicht bloß ein notwendiges Übel, sondern vielmehr das konstituierende Element der Demokratie. Den zeitlichen Kontext in dem Lefort und Gauchet diese Theorien ausgearbeitet haben macht eventuell ihre Theorie verständlicher. Doch ob der Wahnsinn des Wahlspektakels wie er uns heute erschlägt im Sinne von Lefort und Gauchet wären, kann in Frage gestellt werden. Die Vorstellung der Repräsentation der Teilung der Gesellschaft auf der politischen Bühne, die Vorstellung der Demokratie als notwendigen Schaukampf erscheint jedoch heutzutage, wo trotz Intensiv-Wahlkampf und Dauerdiskussion kaum eine adäquate Repräsentation des Klassengegensatzes oder auch anderer gesellschaftlicher Widersprüche stattfindet, kaum noch aktuell zu sein. Dass der Dauerwahlkampf bloß noch Scheingegensätze behandelt, und eine grundlegende In-Frage-Stellung des Status Quo nicht mehr stattfindet, wird uns bei dem Beitrag über Rancière sowie im nächsten Kapitel noch beschäftigen. Für Lefort und Gauchet ist es jedenfalls genau dieser Schaukampf, der der Demokratie in ihrer Ambivalenz Sinn verleiht.

Die demokratische Gesellschaft basiert darauf, dass sie insgeheim auf die Einheit verzichtet, die Konfrontation ihrer Mitglieder stumm legitimiert und stillschweigend die Hoffnung auf politische Einstimmigkeit aufgibt. Im Gegensatz zu ihrem gesamten expliziten Diskurs ist sie eine Gesellschaft, die ihre innere Zerrissenheit unsichtbar mit Sinn auflädt. (Gauchet 1990b, 222).

Das Lefort in anderen aber auch in den hier besprochenen Texten natürlich ein wesentlich breiteres Verständnis von Politik und insbesondere von Demokratie entwickelt sei hier zum Abschluss betont, denn nicht umsonst ist das ganze Blog nach seinem theoretisierten Begriff der “Bresche” benannt. Mehr dazu gibts hier.

Weitere Kapitel

Vom Sinn und Unsinn des Wahlspektakels im Zeitalter der Postdemokratie

Einleitung samt Inhaltsverzeichnis

Demokratie als Simulacrum – der Wahnsinn des Wahl-Spektakels

Simulierte Authentizität – Von der Personalisierung der Politik und den PolitikerInnen als Schauspielstars

Der Begriff der Postdemokratie – eine Einführung

Postdemokratie bei Colin Crouch

Politik, Polizei, Postdemokratie — Jacques Rancière

Literatur:

Gauchet, Marcel (1990a): „Tocqueville, Amerika und wir. Über die Entstehung der demokratischen Gesellschaften“. In: Rödel, Ulrich (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Frankfurt/M: Suhrkamp, S. 123 – 206.

Ders. (1990b): „Die totalitäre Erfahrung und das Denken des Politischen“. In: Rödel, Ulrich (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Frankfurt/M: Suhrkamp, S. 207 – 238.

Lefort, Claude (1990): „Die Frage der Demokratie”. In: Rödel, Ulrich (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Frankfurt/M: Suhrkamp, S. 281 – 297.

Lefort, Claude / Gauchet, Marcel (1990): „Über die Demokratie: Das Politische und die Instituierung des Gesellschaftlichen“. In: Rödel, Ulrich (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Frankfurt/M: Suhrkamp, S. 89 – 122.

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  1. Lefort sieht die Französische Revolution als Ausgangspunkt der europäischen Demokratie. []
  2. Leer und unbesetzbar, so dass kein Individuum, keine Gruppe, ihm konsubstantiell zu sein vermag, erweist sich der Ort der Macht zugleich als nichtdarstellbar.“ (Lefort 1990c, 293). []
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